Notfallwarnung im Mobilfunknetz + Cell Broadcast

[excuse this German-language post, this is targeted at the current German public discourse]

In mehrerern Gegenden Deutschlands gab es verheerende Hochwasser, und die Öffentlichkeit diskutiert deshalb mal wieder die gute alte Frage nach dem adäquaten Mittel der Alarmierung der Bevölkerung.

Es ist einfach nur ein gigantisches Trauerspiel, wie sehr die Deutsche Politik und Verwaltung in diesem Punkt inzwischen seit Jahrzehnten sämtliche relevanten Standards verpennt, und dann immer wieder öffentlich durch fachlich falsche und völlig uninformierte Aussagen auffällt.

Das Thema wurde vor dem aktuellen Hochwasser bereits letztes Jahr im Rahmen des sog. WarnTag öffentlich diskutiert. Auch hier von Seiten der öffentlichen Hand ausschliesslich mit falschen Aussagen, wie z.B. dass es bei Cell Broadcast Datenschutzprobleme gibt. Dabei ist Cell Broadcast die einzige Technologie, wo keine Rückmeldung des einzelnen Netzteilnehmers erfolgt, und das Netz nichtmal weiss, wer die Nachricht empfangen hat, und wo dieser Empfang stattgefunden hat. Ganz wie beim UKW-Radio.

Fakt ist, dass alle digitalen Mobilfunkstandards seit GSM/2G, d.h. seit 1991 die Möglichkeit mitbringen, effizient, schnell und datensparsam alle Nutzer (einer bestimmten geographischen Region) mit sogenannten broadcast Nachrichten zu informieren. Diese Technik, in GSM/2G genannt Cell Broacast (oder auch _SMSCB_), unterscheidet sich Grundlegend von allen anderen Kommunikationsformen im Mobilfunknetz, wie Anrufe und herkömmliche SMS (offiziell SMS-PP). Anrufe, SMS und auch mobile Paketdaten (Internet) werden immer f"ur jeden Teilnehmer individuell auf ihm zugewiesenen Funkressourcen übermittelt. Diese Ressourcen sind beschränkt. Es können in keinem Mobilfunknetz der Welt alle Teilnehmer gleichzeitig telefonieren, oder gleichzeitig SMS empfangen.

Stattdessen benutzt Cell Broadcast - wie der Name bereits unmissverständlich klar macht - Einen broadcast, d.h. Rundsendemechanismus. Eine Nachricht wird einmal gesendet, benötigt also nur eine geteilte Ressource auf der Luftschnittstelle, und wird dann von allen Geräten im Empfangsbereich zeitgleich empfangen und dekodiert. Das ist wie UKW-Radio oder klassisches terrestrisches Fernsehen.

Cell Broadcsat wurde bereits in den 1990er Jahren von Deutschen Netzbetreibern benutzt. Und zwar nicht für etwas lebensnotwendiges wie die Notfallsignalisierung, sondern für so banale Dinge wie die Liste jener Vorwahlen, zu denen gerade ein vergünstigter "wandernder Ortstarif" Besteht. Ja, sowas gab es mal bei Vodafone. Oder bei O2 wurden über lange Zeit (aus unbekannten Gründen) die GPS-Koordinaten der jeweiligen Basisstation als Cell Broadcast versendet.

In der folgenden (nun fast abgeschalteten) Mobilfunkgeneration 3G wurde Cell Broadcast leicht unbenannt als Service Area Broadcast beibehalten. Schliesslich gibt es ja Länder mit - anders als in Deutschland - funktionierender und kompetenter Regulierung des Telekommunikationsmarktes, und die langjährig bestehenden gesetzlichen Anforderungen solcher Länder zwingen die Netzbetreiber und auch die Ausrüster der Neztbetreiber, neue Mobilfunkstandards so zu entwickeln, dass die gesetzlichen Vorgaben bzgl. der Alarmierung der Bevölkerung im Notfall funktioniert.

Im Rahmen dieser Standardisierung haben eine Reihe von Ländern innerhalb der 3GPP-Standardisierung (zuständig für 2G, 3G, 4G, 5G) sogenannte Public Warning Systems (PWS) standardisiert. Zu diesen gehören z.B. das Japanische ETWAS (Earthquake and Tsunami Warning System), das Koreanische KPAS (Korean Public Alerting System), das US-Amerikanische WEA (Wireless Emergency Alerts) und auch das EU-ALERT mit den nationalen Implementationen NL-ALERT (Niederlande) und UK-ALERT (Großbritannien).

Die zahlreichen Studien und Untersuchungen, die zur Gestaltung obiger Systeme und der internationalen Standards im Mobilfunk geführt haben, weisen auch nochmal nach, was sowieso vorher jedem Techniker offensichtlich erscheint: Eine schelle Alarmierung aller Teilnehmer (einer Region) kann nur über einen Broadcast-Mechanismus erfolgen. In Japan war die Zielvorgabe, die Alarmierung in Erdbebenfällen innerhalb von weniger als 4 Sekunden an die gesamte betroffene Bevölkerung zu übertragen. Und das ist mit PWS möglich!

Die relevanten PWS-Standards in 2G/3G/4G/5G bieten jede Menge nützliche Funktionen:

  • Benachrichtigung in bestimmten geographischen Regionen

  • Interoperable Schnittstellen, so das Netzwerkelemente unterschiedlicher Hersteller mit einander Kommunizieren

  • Konfigurierbare Benachrichtigungstexte, nicht nur in der primären Landessprache, sondern auch in mehreren anderen Sprachen, die dann automatisch je nach Spracheinstellung des Telefons wiedergegeben werden

  • Unterschiedliche Schweregrad von Alarmierungen

  • Übermittlung nicht nur im Broadcast, sondern auch im Unicast an jeden Teilnehmer, der gerade in einem Telefongespräch ist, und dessen Telefon gerade währenddessen aus technischen Gründen den Broadcast nicht empfangen würde

  • Unterschied zwischen Wiederholung einer Übertragung ohne Änderung des Inhalts und einer übertragung mit geändertem Inhalt

Es gibt also seit vielen Jahren internationale Standards, wie sämtliche heute eingesetzten Mobilfunktechniken zur schnellen, effizienten und datensparsamen Alarmierung der Bevölkerung eingesetzt werden können.

Es gibt zahlreiche Länder, die diese Systeme seit langem einsetzen. Das US-Amerikanische WEA wurde nach eigenen Angaben seit 2012 bereits mehr als 61.000 Mal benutzt, um Menschen vor Unwetter oder anderen Katastrophen zu warnen.

Sogar innerhalb der EU hat man das EU-ALERT System spezifiziert, welches weitgehend mit dem amerikanischen WEA identisch ist, und auf die gleichen Techniken aufbaut.

Und dann gibt es Länder wie Deutschland, die es seit genauso vielen Jahren vermissen lassen, durch Gesetze oder Vorschriften

  1. die Netzbetreiber zum Betrieb dieser Broadcast-Technologien in ihrem Netz verpflichtet

  2. die Netzbetreiber zur Bereitstellung von standardisierten Schnittstellen gegenüber den Behörden wie Zivilschutz / Katastrophenschutz zu verpflichten, so das diese selbständig über alle Netzbetreiber Warnungen versenden können

  3. die Gerätehersteller z.B. über Vorschriften des FTEG (Gesetz über Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen) zu Verpflichten, die PWS-Nachrichten anzuzeigen

In den USA, dem vermeintlich viel mehr dem Freien Markt und dem Kapitalismus anhängenden System ist all dies der Regulierungsbehörde FCC möglich. In Deutschland mit seiner sozialen Marktwirtschaft ist es anscheinend unmöglich, den Markt entsprechend zu regulieren. Eine solche Regulierung schafft man in Deutschland nur für wirklich wichtige Themen wie zur Durchsetzung der Bereitstellung von Schnittstellen für die Telekommunikationsüberwachung. Bei so irrelevanten Themen wie dem Katastrophenschutz und der Alarmierung der Bevölkerung braucht man den Markt nicht zu regulieren. Wenn die Netzbetreiber kein PWS anbieten wollen, dann ist das einfach so Gottgegeben, und man kann da ja nichts machen.

Falls jemand sich SMSCB und PWS technisch näher ansehen will: In 2019 haben wir im Osmocom-Projekt eine Open Source Implementation des kompletten Systems von BTS über BSC bis zum CBC, sowie der dazwischen befindlichen Protokolle wie CBSP vorgenommen. Dies wurde freundlicherweise durch den Prototype Fund mit EUR 35k finanziert. Ja, so günstig kann man die nötige Technik zumindest für eine einzelne Mobilfunkgeneration entwickeln...

Man kann also in einem selbst betriebenen Labor-Mobilfunknetz, welches auf Open Source Software basiert mehr in Punkt standardkonformer Notfallalarmierung, als die Deutsche Politik, Verwaltung und Netzbetreiber zusammen hinbekommen.

Wir haben in Deutschland Leute, die diese Standards in und auswendig kennen, sogar daran mitgearbeitet haben. Wir haben Entwickler, die diese Standards implementiert haben. Aber wir schaffen es nicht, das auch mal selbst praktisch zu benutzen - das überlassen wir lieber den anderen Ländern. Wir lassen lieber zuerst die ganze Katastrophenalarmierung mittels Sirenen vergammeln, machen den Netzbetreibern keine Vorgaben, entwicklen komische Apps, die Anwender extra installieren müssen, die prinzipbedingt nicht skalieren und beim Test (WarnTag) nicht funktionieren.

Was für eine Glanzleistung für den hochentwickelten Techhologie-Standort Deutschland.